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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschland im Nahost-Dilemma "Oh weh!"

Während die israelische Armee ihre Offensive im Gazastreifen fortsetzt, finden noch immer zu wenige Hilfsgüter ihren Weg zur palästinensischen Zivilbevölkerung. Das setzt nicht nur Israel politisch unter Druck, sondern auch Deutschland.
Wenn es um den Umgang mit schwierigen internationalen Partnern geht, verweist Johann Wadephul oft auf die historische Verbundenheit zwischen Deutschland und den jeweiligen Staaten. Bei einem Treffen mit US-Außenminister Marco Rubio sprach er über deutsch-amerikanische Verbundenheit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Bundestag am Mittwoch betonte er die Bedeutung Ungarns für die deutsche Wiedervereinigung, als er nach Konsequenzen für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gefragt wurde, der sein Land mit einem Ermächtigungsgesetz weiter in Richtung Diktatur bewegt.
Am Donnerstag empfing der CDU-Politiker in Berlin den israelischen Außenminister Gideon Saar. Auch bei der gemeinsamen Pressekonferenz erklärte Wadephul, dass die deutsch-israelische Freundschaft keine Selbstverständlichkeit sei – nicht nach den deutschen Verbrechen des Holocausts. Schon zu diesem Zeitpunkt stand fest: Die Streitthemen würden auf den Tisch gelegt werden. Entweder vom deutschen Außenminister oder von den Journalistinnen und Journalisten im Raum.
Dass der Nahostkonflikt für die deutsche Außenpolitik ein schwieriger Balanceakt ist, kommt nicht überraschend, ist nicht neu. Viele Jahrzehnte verurteilten Bundesregierungen die Terrororganisation Hamas, sprachen sich nach jeder Intifada – den Aufständen der Palästinenser – für politische Antworten in Form einer Zweistaatenlösung aus. Doch diesmal ist vieles anders: Noch nie forderte ein Terrorakt der Hamas so viele Todesopfer wie der Angriff vom 7. Oktober 2023. Noch nie starben bei den Kämpfen so viele palästinensische Zivilisten wie im aktuellen Gaza-Krieg.
Mit der israelischen Kriegsführung isoliert Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sein Land nicht nur international, auch Deutschland steht zunehmend zwischen den Stühlen. Zwischen der deutschen Staatsräson mit Blick auf den Schutz Israels und der zweiten Staatsräson, dem Bekenntnis zum internationalen Völkerrecht. Die Bundesregierung versucht sich in einem diplomatischen Mittelweg. Doch ob das noch lange gut geht, ist fraglich.
"Nur die Hamas ist verantwortlich für das Leid"
Die israelische Regierung macht aus ihrer Art der Kriegsführung kein Geheimnis, auch das wurde am Donnerstag deutlich. "Die israelische Armee, die moralischste Armee der Welt, kämpft diesen Krieg im Einklang mit dem Völkerrecht", sagte Saar. Mit Blick auf die humanitäre Lage im Gazastreifen wies Saar eine Verantwortung Israels zurück. "Nur die Hamas ist verantwortlich für das Leid auf beiden Seiten."
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Doch die israelische Führung hält seit Monaten Hilfslieferungen zurück. Die Menschen hungern und lieferten sich bereits gewaltsame Kämpfe an den wenigen Ausgabestellen, die Israel zuletzt zeitweise geöffnet hatte. Trotz internationaler Kritik nimmt Israel auch weiterhin das Leid der Menschen im Gazastreifen in Kauf.
Die Gründe dafür nannte Saar auf der Pressekonferenz vergleichsweise offen. "Die Hilfsgüter wurden zu einer ökonomischen Einnahmequelle für die Hamas, mit der sie ihre Kriegsmaschinerie finanziert", erklärte Saar. Israel sei völkerrechtlich nicht dazu verpflichtet, die Terrororganisation aufzurüsten. Länder wie Deutschland sehen Israel hingegen in der Pflicht, humanitäre Hilfe zu leisten. "Oh weh", kommentierte ein Journalist im Raum die Ausführungen des israelischen Außenministers am Donnerstag. Denn die Uneinigkeit zwischen Deutschland und Israel in dieser Frage war kaum überhörbar.
Wahrlich könnte die Hamas die Kontrolle über die Hilfsgüter nutzen, um ein Faustpfand gegen die eigene Bevölkerung in der Hand zu haben. Doch es ist fraglich, ob die Terroristen mit den Erlösen aus Kartoffeln und Babybrei wirklich Waffen kaufen. Denn eines fehlte der Hamas selten: internationale Geldgeber, die mit Israel verfeindet sind. Die Herausforderung für die Islamisten bestand eher darin, Waffen und Munition in den Gazastreifen zu bringen und sie vor israelischen Zugriffen zu verstecken.
Belege, die Saars Behauptungen stützen, legte die israelische Führung bislang nicht vor. Sie versucht mit dieser Argumentation allerdings, Vorwürfe des Völkerrechtsbruchs zu entkräften.
Israel provoziert Aufstand in Gaza
Dass ein tragender Grund für die israelische Kriegsführung derzeit woanders zu finden ist, auch das deutete der israelische Außenminister an. "Wir sehen aktuell bereits öffentliche Proteste in Gaza. Die Menschen beginnen, ihre Wünsche zum Ausdruck zu bringen", sagte Saar. Das könne das Ende der Hamas-Herrschaft über Gaza bedeuten und damit könnten auch die israelischen Geiseln freikommen, die weiterhin von den Terroristen festgehalten werden.
Auch diese Erklärung kam überraschend offen. Sie impliziert allerdings, dass Israel Hunger als Waffe einsetzt, um die palästinensische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Islamisten zu animieren. Eine Strategie, die nicht mit dem Völkerrecht vereinbar wäre, wobei es unklar ist, ob die Bevölkerung nach vielen Monaten des Leides und Hungers überhaupt über ausreichend Kraft verfügt, sich gegen die Terroristen zu stellen.
Fast eine Bestätigung dieser Strategie kam am Donnerstag von Netanjahu selbst. Israel hat nach den Worten des Ministerpräsidenten im Kampf gegen die Hamas lokale palästinensische Clans im Gazastreifen "aktiviert", und wahrscheinlich auch bewaffnet. Nach Angaben des Regierungschefs handelt es sich bei den Gruppierungen um Clans, die die Hamas ablehnen. "Was ist daran schlecht? Das ist nur gut. Das rettet das Leben israelischer Soldaten", sagte Netanjahu in der Videobotschaft.
Bundesregierung versucht Spagat
Um die humanitäre Lage im Gazastreifen zu verbessern, möchte die israelische Führung einen Plan der Amerikaner umsetzen, der auf wenige Ausgabenstellen setzt, die nicht von der Hamas kontrolliert werden. Das neue System mit der von den USA unterstützten Stiftung GHF führte laut Saar wiederum dazu, "dass die Hamas keinen Nutzen daraus ziehen kann". Israel bitte Deutschland darum, diesem Vorgehen eine Chance zu geben. "Diese Bemühungen haben das Potenzial, die palästinensische Bevölkerung aus dem Joch der Hamas zu befreien." Doch für Potenzial haben die Menschen in Gaza eigentlich keine Zeit, und die schleppende Umsetzung der US-Initiative durch die israelische Führung wirkt auf Beobachter eher wie ein Zeitspiel.
Das stellt Deutschland wiederum vor Probleme. Wadephul hatte in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" gesagt, dass Deutschland Waffenlieferungen an Israel auf den Prüfstand stellen soll. Plötzlich stand der Außenminister innenpolitisch in der Schusslinie, obwohl er eigentlich lediglich den Kurs vertreten hat, den Bundeskanzler Friedrich Merz vorgab. Dieser war vergangene Woche von der bisherigen Linie der Bundesregierung abgewichen und hatte Israel vorgeworfen, das humanitäre Völkerrecht zu verletzen. "Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen", so der Kanzler.
Dennoch stand vor allem Wadephul innenpolitisch in der Schusslinie. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann sagte dem "Spiegel": "Freunde kann man kritisieren, aber nicht sanktionieren. Das wäre das Ende der Staatsräson gegenüber Israel, und das ist mit der CSU nicht zu machen." Aus der SPD kam dagegen Zustimmung für den Kursschwenk von Merz.
Wadephul versuchte am Donnerstag den Spagat. Einerseits übte er scharfe Kritik am israelischen Siedlungsbau im Westjordanland und warf der israelischen Regierung einen Völkerrechtsbruch vor. Zur Situation im Gazastreifen sagte er: "Was im Moment an humanitärer Hilfe nach Gaza gelangt, das ist zu wenig." Er habe deswegen "die dringende Bitte erneuert, humanitäre Hilfe für Gaza zuzulassen, entlang der Prinzipien von Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und der Unabhängigkeit und ohne Einschränkungen". Dies sei "nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, es ist auch geltendes Völkerrecht".
Andererseits lehnte der Außenminister Konsequenzen für Israel ab. So solle Israel weitere Waffenlieferungen aus Deutschland erhalten, auch die Anerkennung Palästinas als Staat erteilte er zu diesem Zeitpunkt eine Absage. Darüber hinaus ist Deutschland auch gegen eine Prüfung des Assoziierungsabkommens zwischen Israel und der Europäischen Union.
EU-Mehrheit gegen deutsche Position
Das alles ist zunächst eine gute Nachricht für Netanjahu, weil er politische Rückendeckung aus den USA und aus Deutschland bekommt und er dadurch keine unmittelbaren Strafmaßnahmen fürchten muss.
Doch wie lange die Bundesregierung ihren Kurs durchhalten kann, die Kritik nicht mit politischem Handeln zu unterfüttern, ist fraglich. Denn im westlichen Bündnis wird die deutsche Position lediglich von einer Minderheit vertreten. Frankreich, Großbritannien und Kanada drohten der israelischen Regierung bereits mit Sanktionen. In der EU sind zwei Drittel der Mitgliedsstaaten für eine Prüfung des Assoziierungsabkommens mit Israel.
Das stellt die Bundesregierung vor Probleme. Mit jedem Tag des Leides der Menschen in Gaza werden die Stimmen an Gewicht gewinnen, die politische Konsequenzen für Israel fordern. Darüber hinaus kann es sich Deutschland als europäische Führungsmacht eigentlich nicht leisten, den außenpolitischen Kurs einer Mehrheit in der EU lediglich zu blockieren. Schließlich soll Brüssel als sicherheitspolitischer Akteur mit einer Stimme sprechen. Deswegen kündigte auch Wadephul am Donnerstag an, mit Frankreich nach einer gemeinsamen Position suchen zu wollen. Wie diese aussehen sollen, ist allerdings noch offen.
- Beobachtungen bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Johann Wadephul und Gideon Saar in Berlin
- spiegel.de: CSU kritisiert Außenminister Wadephul für Umgang mit Israel
- sueddeutsche.de: "Ich rate dazu, über das zu sprechen, was uns verbindet"
- tagesschau.de: Israel hat EU-Mehrheit gegen sich aufgebracht
- Eigene Recherche